Tullner: „Die Grundschulen werden zuerst öffnen“

Sachsen-Anhalts Bildungsminister über Grenzen des Distanzunterrichts und Perspektiven für die Schulen
Noch nie wurden Schüler über Wochen fast ausschließlich digital unterrichtet. Im Interview verteidigt Bildungsminister Marco Tullner (CDU) die aktuellen Schulschließungen, spricht über Grenzen digitalen Unterrichts und Schlussfolgerungen für die Abschlussprüfungen 2021. Alexander Walter redete mit ihm.

Bildungsminister Marco Tullner im Gespräch.Foto: dpaIn Sachsen-Anhalt sind die Schulen aufgrund der pandemie derzeit erneut geschlossen.Foto: dpa
In Sachsen-Anhalt sind die Schulen aufgrund der pandemie derzeit erneut geschlossen.
Volksstimme: Herr Tullner, zum zweiten Mal binnen weniger Monate sind die Schulen über Wochen fast komplett zu. Erleben wir gerade, wie die Schulbildung eines ganzen Jahres zum Opfer der Corona-Pandemie wird?

Marco Tullner: Ein ganz klares Nein. Natürlich stellt die Pandemie die Schulen vor eine herausfordernde Situation. Und möglicherweise werden wir in den kommenden Jahren über Defizite sprechen. Ich wehre mich aber Katastrophen und Trümmerlandschaften das Wort zu reden. Niemand konnte darauf vorbereitet sein, dass wir die Schulen einmal komplett würden schließen müssen. Eine solche Lage gab es in Deutschland zuletzt höchstens direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir reden jetzt zunächst von weiteren vier Wochen. Ein Schuljahr hat 40 Wochen. Aber glauben Sie mir, jede Woche der Schulschließungen stört mich.

Experten gehen von erheblichen Lernrückständen auch bei Fernunterricht aus. Müssen Grundschüler acht Wochen zu Hause bleiben, entspricht der Lernverlust fast exakt diesem Zeitraum, sagt eine Studie der Universität Oxford. Deutsche Bildungsforscher halten die Ergebnisse für übertragbar…

Ich bewundere ja, wie man so etwas misst. Davon abgesehen: Das Grundproblem im Lockdown sind die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu Bildung. In einem Fall haben wir ein wohlbehütetes Einzelkind mit Endgeräten, WLAN-Zugang und Eltern, die sich kümmern können. Im anderen ist da die Großfamilie, in der sich Kinder einen Computer teilen müssen und die Eltern zur Arbeit gehen. Wieder andere Schüler haben nicht mal einen Internet-Zugang. Das stellt uns vor große Herausforderungen.

Die hätte man seit März nicht beheben können?

Nein, diese Defizite kann man nicht so schnell beheben, sie sind auch nur bedingt durch staatliches Handeln zu lösen. Schüler sind zudem durch die allgemeine Lage gestresst. Es fehlt nicht nur das Lernen, sondern auch der soziale Kontakt zu Mitschülern und gewohnte Zeitstrukturen. Deshalb wollen wir die Schulen so schnell wie möglich wieder öffnen, wenn es denn geht.

Wann planen Sie, die Schulen zu öffnen?

An Szenarien dafür mangelt es nicht im Bildungsministerium. Entscheidend sind aber die Entwicklung der Infektionszahlen und die politischen Entscheidungen in Berlin. Anders als im Frühling gehört Sachsen-Anhalt im Moment zu den Top-Hotspots bei den Inzidenzwerten mit mehr als 200 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen einer Woche. Im Burgenlandkreis liegt der Wert sogar über 500. Da verbietet es sich, beim Thema Schulöffnungen voranzuschreiten.

Baden-Württemberg und Niedersachsen wollen die Schule im Wechselunterricht öffnen, auch um Eltern zu entlasten…

In beiden Ländern liegt die Inzidenz unter 100. Das ist eine ganz andere Situation. Noch mal: Sollten die Zahlen es hergeben, muss mich niemand auffordern zu öffnen. Aber im Moment geben die Zahlen das nicht her. Der nächste Zeitpunkt ist für mich der 15. Februar. Dann wird man vielleicht eine Zwischenstufe einziehen können. Versprechen will ich aber nichts.

Womit wir wieder beim Distanzunterricht wären. Ihr Anspruch ist, dass Schüler zu Hause vergleichbar lernen wie im normalen Unterricht. Wie aber kann das einheitlich funktionieren, wenn ein Lehrer Aufgaben per E-Mail verschickt, während der andere Videokonferenzen anbietet?

Die Heterogenität der Methoden ist mir bewusst. Die Pandemie stellt aber auch die Lehrer vor große Herausforderungen. Zum einen ist es ein Problem, wenn sie zwar beispielsweise Videounterricht anbieten können, aber ein Drittel der Kinder nicht erreichen, schlicht weil diese keinen Netzzugang haben. Zum anderen geht ihre Frage von der Grundannahme aus, dass auch der Präsenzunterricht mit standardisierten Methoden erfolgt. Das ist nicht der Fall. Es gehört zur pädagogischen Freiheit von Lehrern, die Medien zu nutzen, die sie für angemessen halten, im Präsenz- wie im Distanzunterricht.

Eine Methode ist also nicht per se gut oder schlecht. Als großen Erfolg sehe ich, dass die Kommunikation zwischen Lehrern, Schülern und Eltern sich seit dem ersten Lockdown erheblich verbessert hat. Der regelmäßige Kontakt ist das A und O. Beschwerden darüber, dass das nicht funktioniert, haben wir anders als im Frühling, kaum noch.

Trotzdem: Sind gerade jüngere Schüler mit der Aufgabe, sich selbst strukturieren zu müssen, nicht hoffnungslos überfordert?

Diese Gefahr besteht. Gerade jüngere Schüler brauchen Strukturen und den sozialen Kontakt zu Mitschülern. Deshalb werden die Grundschulen zuerst wieder öffnen, sobald es niedrigere Infektions-Zahlen erlauben. Bis dahin aber gilt: Präsenzunterricht nur für Abschlussklassen.

In Stendal arbeitet eine private Grundschule mit Videounterrricht mit festen Stundenplänen und virtueller Präsenz – nach eigenen Angaben sehr erfolgreich. Bis wann wird so etwas in ganz Sachsen-Anhalt möglich sein?

Eine Grundschule, die regelhaft über Videounterricht agiert, will ich mir maximal in Corona-Zeiten vorstellen. Beim Distanzunterricht an staatlichen Schulen müssen sie aber auch Kinder in Magdeburg-Olvenstedt, Halle-Süd oder Stendal-Stadtsee mitnehmen. Es gibt Kinder, die entweder von der technischen Ausstattung her oder kognitiv nicht in der Lage sind, Videoformaten zu folgen. Dieser Vielfalt der Bedingungen muss Schule Rechnung tragen.

Trotzdem: Ein Lockdown könnte sich wiederholen. Warum nicht ein Bund-Länder-Gipfel dazu, wie Distanzunterricht aussehen sollte? Warum tauschen sich die Länder nicht über Erfolgsmodelle aus und entwickeln Standards?

Ein Austausch zwischen den Ländern findet statt, erst am vergangenen Donnerstag hat die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) Beschlüsse zu den Abschlussprüfungen in diesem Jahr gefasst.

Insgesamt stehen wir nicht schlecht da, im Gegenteil: Wenn die Pandemie vorbei ist, wird die Digitalisierung in den Schulen meiner Ansicht nach ein Vorbild für andere Gesellschaftsbereiche sein. Es ist enorm viel passiert. Vielfach ist heute Digitalunterricht in Echtzeit möglich. Junge Lehrer, die meist digitalaffin sind, rücken in die Schulen nach. Die eigentliche Herausforderung nach der Pandemie wird sein, Digitalisierung wieder anders zu denken. Nicht die Videokonferenz in Corona-Zeiten, sondern digital unterstütztes Lernen im Präsenzunterricht wird dann im Fokus stehen. Wenn der Bund dabei im Boot ist und die Länder sich enger abstimmen, kann das nur helfen.

Der erneute Zusammenbruch der Server für die Lernplattform Moodle hat Ihnen vor Weihnachten viel Kritik eingebracht. Läuft die Technik inzwischen stabil?

Der Digitalunterricht hat auf unseren Servern vor allem drei Säulen: Die Lernplattform Moodle, das Videokonferenz-Werkzeug Big Blue Button und die Emu Cloud für Daten und Dokumente. Mit Moodle sind wir jetzt zu rund 60 Prozent von den bisherigen, technisch limitierten Servern in der Uni Magdeburg zur Telekom umgezogen, Big Blue Button ist ebenfalls weitgehend beim neuen Anbieter hinterlegt.

Das System läuft also stabil?

Es kann Einzelfälle geben, in denen es auch mal nicht funktioniert. Aber: Vor dem Umzug sind die Server vor Weihnachten bei zehn Millionen Zugriffen am Tag zusammengebrochen. Am ersten Tag Distanzunterricht nach den Ferien hatten wir 20 Millionen Zugriffe, ohne, dass es nennenswerte Ausfälle gegeben hätte. Der Unterschied jetzt ist: Wenn die Server ausgelastet sind, sind wir technisch nicht mehr limitiert. Beim neuen Anbieter können wir im Bedarfsfall bildlich gesprochen einfach eine weitere Tür aufmachen.

Digitalunterricht hin oder her: Die Abschlussjahrgänge sind durch die Corona-Pandemie besonders von Lernverlusten betroffen. Wird es Abstriche bei Abschlussprüfungen geben?

Wir haben uns am Donnerstag in der Kultusministerkonferenz darauf verständigt, dass für den aktuellen Abitur-Jahrgang keine Nachteile durch die Corona-Pandemie entstehen dürfen. Die Abschlüsse werden denen anderer Jahrgänge gleichwertig sein und gegenseitig anerkannt. Prüfungen wird es aber geben. Corona-Abschlüsse schließe ich aus. Das gilt auch für die Realschul-Abschlüsse. Andernfalls könnten wir in ein, zwei Jahren erhebliche Verwerfungen erleben, bis hin zu Klagen um Studienplätze.

Wird es inhaltliche Erleichterungen bei den Prüfungen geben?

Jein. Am Anforderungsniveau drehen wir nicht. Ein Entgegenkommen wird es trotzdem geben, beispielsweise mehr Zeit für die Vorbereitung von Aufgaben, eine größere Aufgabenauswahl, die Fokussierung auf prüfungsrelevante Fächer oder konkretere Prüfungshinweise. Die konkreten Maßnahmen werden gerade erarbeitet und mit dem Landesschülerrat abgestimmt.

Werden Prüfungstermine verschoben?

Das hängt von der Entwicklung der Pandemie und einer möglichen Öffnung der Schulen ab. Was es nicht geben wird, ist eine zweite Prüfungszeitschiene für das Abitur. Das wurde im vergangenen Jahr von weniger als 10 Prozent der Abiturienten angenommen.

Volksstimme Magdeburg

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