Warum ist der Lehrermangel bei uns so groß?

In Sachsen-Anhalt stehen Pädagogen besonders wenig vor der Klasse – eine Analyse. Von Jens Schmidt und Alexander Walter

Unterrichtsausfälle, Lehrermangel: Überall in Deutschland gibt es Probleme, aber in Sachsen Anhalt ist die Lage besonders schlimm. Das
Land schreibt zwar jährlich mehr als 1000 Stellen aus – trotzdem verschärft sich die Misere. Warum?

Grafik: prePress Media Mitteldeutschland GmbH, Foto: dpa

483 000 Stunden Unterricht fielen zwischen Arendsee und Zeitz schon im Vor-Corona-Jahr 2018/19 ersatzlos aus. In Mecklenburg Vorpommern war die Ausfallquote nur halb so hoch. Und die Tendenz kennt hierzulande seit Jahren nur eine Richtung – nach oben. Hinzu kommt: Sachsen-Anhalts Lehrer unterrichten effektiv weniger vor der Klasse als Kollegen in anderen Bundesländern. Das zeigt die aktuelle Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK). Wo liegen die Baustellen?

Geringere Arbeitszeit: Lehrer müssen eine bestimmte Pflichtstundenzahl absolvieren. Das ist jene Zeit, die sie in der Klasse unterrichten. In Sachsen-Anhalt galten bislang im Grundsatz: 27 Stunden pro Woche für Grundschullehrer und 25 Stunden für Lehrer in weiterführenden Schulen. Obendrauf kommen Unterrichtsvorbereitung, Korrekturen, Elterngespräche. Bei den Pflichtstunden indes geht es allein um die Zeit vor der Klasse. Die Stundenfestlegung ist Ländersache. Eine Reihe anderer Bundesländer haben höhere Normen als Sachsen-Anhalt. In Berlin, Bayern oder Niedersachsen etwa müssen Grundschullehrer 28 Stunden pro Woche vor der Klasse unterrichten. Auch bei weiterführenden Schulen liegt das Soll in den meisten Ländern höher als hier niedrigere Effektivität: Die Kultusministerkonferenz erfasst jedes Schuljahr für alle Bundesländer, wie viel Unterricht wöchentlich erteilt wird.

Die aktuelle Statistik zeigt: In Sachsen-Anhalt haben 14813 Lehrkräfte 323 827 Unterrichtsstunden je Woche gegeben. Das sind im Schnitt 21,9 Stunden je Lehrkraft. Das ist bundesweit einer der niedrigsten Werte (siehe Grafik 2). Anders gesagt: In Sachsen-Anhalt kommt unterm Strich also weniger Unterricht bei den Schülern an als in anderen Bundesländern. Dazu muss man folgendes wissen: Etliche Pädagogen haben eine geringere Stundenvorgabe. Dazu zählen Schulleiter: da sie viel Zeit ins Organisatorische stecken, müssen sie weniger vor der Klasse unterrichten als Kollegen. Sogenannten Abminderungsstunden gibt es auch für Ältere ab 62 Jahren – sie haben zwei Stunden weniger auf dem Pflichtzettel. Auch Gymnasiallehrer müssen ein bis zwei Stunden weniger in der Woche unterrichten, wenn sie vorrangig in den Klassen 11 und 12 eingesetzt sind – da die Abiturstufe mehr Vorbereitungszeit verlangt. In anderen Bundesländern gibt es ähnliche Regelungen. Manche, wie Mecklenburg Vorpommern, haben für Ältere sogar noch großzügigere Arbeitszeitverkürzungen – dennoch sind sie insgesamt effektiver.

Im Bundesland an der Ostsee steht eine Lehrkraft im Mittel zwei Stunden pro Woche mehr vor der Klasse. Warum kommt so wenig Unterricht an? Warum in Sachsen-Anhalt unter dem Strich so wenig Unterricht geleistet wird, erschließt sich auch Fachleuten nicht vollends. Mitunter wird erwähnt, dass etwa Langzeiterkrankte den Schnitt drücken. Doch auch das kann nur ein Faktor sein: Laut Statistikdes Bildungsministeriums sind derzeit 376 Vollzeitstellen deswegen unbesetzt – bei über 14 000 Lehrern. Auch Lehrerinnen im Mutterschutz könnten den Schnitt drücken. Vollständig aufzuklären ist all das erst einmal nicht. Am Ende stehen aber 21,9 Stunden pro Woche und Lehrkraft – das sind 0,6 Stunden weniger als im bundesdeutschen Mittel. Der Wert von 21,9 Stunden pro Woche ist einer der niedrigsten bundesweit. Der Abstand zum bundesdeutschen Mittel beträgt 0,6 Stunden pro Lehrkraft. „Das klingt wenig, summiert sich aber schon heute auf ein beträchtliches Arbeitsvolumen von 350 Vollzeitlehrern im Lande auf“, sagt Rechnungshofpräsident Kay Barthel. „Wenn es nun auch noch gelingt, die von der Landesregierung beschlossene zusätzliche Unterrichtsstunde tatsächlich vor die Klasse zu bringen, kann dies wirklich helfen, die Unterrichtsversorgung zu verbessern.“

Der Konflikt: Sachsen-Anhalts Landesregierung hat daher beschlossen, die Pflichtstundenzahl ab März um eine Stunde pro Woche zu erhöhen. (Ausgenommen sind Ältere ab 62 Jahren.) Die Stunde wird wahlweise bezahlt oder kommt auf ein Arbeitszeitkonto. Die Regierung verbindet damit die Hoffnung, dass effektiv mehr Unterricht bei den Schülern ankommt. Die Lehrerlücke würde von zwei Seiten geschlossen: Einerseits durch Neueinstellungen und andererseits durch Mehrarbeit beim vorhandenen Personal. Die Gewerkschaft GEW jedoch hält die Zusatzstunde für falsch. Sie fordert stattdessen mehr Assistenzkräfte und pädagogische Mitarbeiter, um Lehrer von organisatorischen Arbeiten zu befreien. Dann könnten sie auch mehr unterrichten. Strukturelle Nachteile und Fehler der Vergangenheit

Lohnlücke: Bereits elf Bundesländer locken Grundschullehrer mit der höheren Gehaltsstufe A 13 (Beamte) beziehungsweise E 13 (Angestellte). Das Einstiegsgehalt liegt je nach Land bei 4100 bis 5000 Euro brutto. Damit werden sie ihren Kollegen in weiterführenden Schulen gleichgestellt. Das höhere Gehalt gilt in allen Ost-Bundesländern und Berlin – aber nicht in Sachsen-Anhalt. Jetzt ist die Regierungskoalition in Magdeburg dabei, eine stufenweise Anpassung auszuarbeiten, die sich über mehrere Jahre erstrecken soll. Die Gewerkschaft fordert die Anhebung sofort. Für Berufseinsteiger wären das etwa 700 Euro brutto mehr als heute. Insgesamt würde die Anhebung die Landeskasse etwa 30 Millionen Euro pro Jahr kosten.

Falsche Personalpolitik: Die anderen Ost-Länder haben ihre Lehrerkollegien über die vergangenen Jahre personell ordentlich aufgerüstet (siehe große Grafik 1). Sachsen-Anhalt aber ist über die Langstrecke betrachtet auf Schrumpfkurs, obgleich die Schülerzahl auch hier stieg. Wie kam das? Lange Zeit war Sachsen-Anhalt rechnerisch deutlich besser ausgestattet als die Nachbarn: Auf einen Lehrer kamen 11,7 Schüler. In den anderen Ostländern waren es 13 bis 14. Um die Personalausgaben in dem hoch verschuldeten Land in den Griff zu kriegen, leiteten die CDU-SPD-Landesregierungen und voran ihr damaliger Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) ab 2006 einen harten Sparkurs ein. Das Ziel: Die als üppig angesehene Personalausstattung sollte auf das Niveau der Nachbarländer getrimmt werden. Mit harten Konsequenzen: In Sachsen-Anhalt wurden kaum noch junge Lehrer eingestellt. Absolventen wanderten ab.

Das Resultat: Sachsen-Anhalt hat zwar sein Schüler-Lehrer-Verhältnis heute auf das Niveau der Nachbarn angeglichen – es hat aber riesige Personalprobleme produziert. In der Lehrerschaft fehlen die mittleren Jahrgänge zwischen 40 und 50 Jahren (siehe Grafik 3). Gerade sie aber gelten als Leistungsträger: Im Gegensatz zu den Jüngeren haben sie die Familienplanung meist abgeschlossen (weniger Elternzeit) und sind weniger krank als Ältere. Im Bundesmittel hingegen sind die Altersgruppen in der Lehrerschaft harmonisch verteilt. Zum Problem wird das Echo des langen Sparkurses auch, weil der Abgang der zahlenmäßig starken älteren Jahrgänge jetzt doppelt wehtut. 60 Prozent der Lehrer in Sachsen-Anhalt sind heute älter als 50. Dem Land steht damit eine Pensionierungswelle Tausender älterer Lehrer bevor, ohne dass ähnlich starke Jahrgänge folgen könnten.

Ausbildung eingedampft: Vor 20 Jahren wurde die Lehrerausbildung an der Uni Halle konzentriert. Der Lehrstuhl in Magdeburg wurde – bis auf wenige Studienplätze – geschleift. Grund auch hier: Das Land wollte sparen. Doch auch das hatte fatale Konsequenzen. Im Norden Sachsen-Anhalts gibt es für viele angehende Lehrer bis heute keinen Studienort. Sachsen indes hat die Zahl seiner Lehramtsstudienorte erweitert: Neben Leipzig und Dresden kam Chemnitz hinzu – an der dortigen TU gibt es eine spezielle Grundschullehrer-Ausbildung. Selbst CDU und FDP, die die Uni-Reform 2003 einst durchboxten, sehen die Konzentration auf Halle heute kritisch.

Nur die SPD, und voran ihr Wissenschaftsminister Armin Willingmann, möchte am Status Quo am liebsten nicht rütteln. Seine Furcht: Öffnet er die Uni Magdeburg wieder stärker fürs Lehrerstudium, müsste er Halle als Ausgleich wieder mehr Ingenieurstudienplätze geben. Die Fächer-Schwerpunktbildung geriete ins Wanken. Die Linke hält das für vorgeschoben. Ihr Bildungspolitiker Thomas Lippmann sagt: „Die Lehrerausbildung in Magdeburg nahezu einzustellen, war ein Fehler. Für die SPD aber ist es ein Mantra. Fest eingebrannt.“ Doch nach dem Bildungsgipfel der Landesregierung im Januar gibt es auch hier zumindest ein wenig Bewegung: Die Koalition hat durchgesetzt, dass die Ausbildungskapazität in Magdeburg erweitert wird, künftig könnte Chemie als neues Lehramtsfach hinzukommen. Außerdem sollen die Möglichkeiten vorhandene Fächer frei zu kombinieren, erweitert werden. Armin Willingmann wurde überstimmt. Richtig überzeugt war er aber nicht. Der Minister gab bei der Pressekonferenz im Januar dann auch zu Protokoll: „Ich sehe das etwas differenzierter.“

Volksstimme Magdeburg

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