„Wir sollten überlegen, was Schüler umtreibt“

Der Leiter der Evangelischen Sekundarschule über seine Erfahrungen aus der coronabedingten nach Hause verlagerten Schule als Lernort

Die letzten beiden Wochen haben gezeigt, was wir Lehrenden dieses Landes zu leisten vermögen. In kürzester Zeit haben Schulen Notbetreuungspläne organisiert, lehrplangemäße Aufgaben erstellt und auf unterschiedlichsten Wegen zu den Haushalten der Schülerinnen und Schüler gesandt. Es hagelt geradezu auf die Elternhäuser ein: digitale Lernangebote, Dokumenten-Uploads, Selbststudium und die Aufforderung, neue Inhalte selbstständig zu erarbeiten, oft garniert mit dem Hinweis, dass Bewertungen weiterlaufen und klar gesetzte Fristen „einzuhalten sind“.

Hormone wollen bedient werden
Als Vermittler von Fachwissen haben wir uns bewährt. Jetzt müssen wir auch als Pädagogen aktiv werden.

Versetzen wir uns in die Lage unserer Schülerinnen und Schüler. Die erste Freude über die „Corona-Ferien“ dürfte verblasst sein.

Die starken Reglementierungen des öffentlichen Lebens beschneiden die Jugendlichen, die traditionell die Nischen öffentlicher Räume für ihre Freizeit nutzen, besonders krass. Wo noch chillen?

Gerade im Alter zwischen 12 und 18 Jahren sind es die sozialen Kontakte, die das Leben bestimmen. Man arbeitet sich an Menschen ab: der ehemals besten Freundin, der allzu gestrengen Deutschlehrerin, aber auch – ganz positiv – dem humorvollen und zugewandten Klassenlehrer. Eltern dagegen sind meist peinlich, Geschwister oft nervtötend, der emotionale Haushalt ist mindestens unstet und Hormone wollen bedient werden. Mit jeder Woche Corona-Pause dürfte die unfreiwillige familiäre Kasernierung unerfreulicher werden. Dies gilt, wenngleich weniger explosiv, auch für Grundschulkinder. Sie vermissen ihre Spielkameraden und sind nicht ausgelastet. Neunjährige, die gerade gelernt hatten, alleine Bus zu fahren, einkaufen zu gehen und ihren Lebensradius zu erweitern, werden auf das Bewegungsterritorium eines Kleinkindes zurückgedrängt.

Die gebremsten Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen treffen dabei auf die expandierenden beruflichen Bedürfnisse der elterlichen Heimarbeit. Und mitten hinein in diese belastende Mischung feuern die Schulen Aufgaben, von denen wir – Hand aufs Herz – häufig wissen, dass sie ohne die strukturierende Hilfe der Erwachsenen nicht zu bewältigen sind.

Wir sollten die Schule nicht länger simulieren
Wenn Didaktik die Wissenschaft dessen ist, was wann gut gelernt werden kann, und Pädagogik darauf zielt, (junge) Menschen in ihrer Entwicklung zu befördern, müssen die Schulen und wir Lehrenden unseren Umgang mit der Corona-Pause verändern. Wir sollten nicht länger die Institution Schule, die nicht stattfindet, (virtuell) simulieren, sondern überlegen, was unsere Schülerinnen und Schüler jetzt umtreibt und was sie jetzt brauchen.

Das sind wohl diese Dinge: Zuwendung, Struktur, Orientierung und Perspektive. Das heißt nicht, dass wir darauf verzichten sollten, das Lernen von Englischvokabeln zu verlangen. Es heißt auch nicht, dass das Warmhalten fachlicher Kompetenzen vernachlässigt werden kann, aber es bedeutet, dass wir die Situation unserer Zielgruppe bedenken müssen und dass sich deswegen zu den üblichen Aufgabenformaten und vor allem auch auf Kosten dieser Weiterführendes gesellen muss.

Rufen wir unsere Kundschaft an
Aufgaben und Dinge, die unterstreichen, was jetzt wichtig ist und die erlauben, die gegenwärtigen Erfahrungen in zukunftsfähige Charakterzüge zu übersetzen. Was bedeutet das konkret?

  • Zuwendung: Rufen wir unsere Kundschaft an. Nicht jeden Einzelnen, aber doch die, von denen wir wissen, dass es ihm oder ihr guttun würde. Fragen wir sie, wie es ihnen geht, was sie vermissen, wie wir ihnen helfen können.
  • Werden wir insgesamt dialogischer und begeben uns auf Augenhöhe, indem wir ihnen Briefe schreiben und von unserem Umgang mit der Krise erzählen. Verabreden wir uns als Klasse im virtuellen Raum und zeigen uns die begrenzten Quadratmeter unserer gegenwärtigen Existenz.
  • Struktur: Schlagen wir ihnen konkrete Tagesabläufe vor, damit sie nicht verlottern.
  • Orientierung: Bitten wir sie uns aufzulisten, in welchen Momenten des Tages es ihnen gelungen ist, zum Wohle der Familie rücksichtsvoll zu sein und loben sie dafür.
  • Perspektive: Stellen wir Aufgaben, die ihnen helfen, ihr Schicksal einzuordnen, indem sie beispielsweise in Geschichte den Auftrag erhalten, den ältesten Verwandten nach seinem Schulalltag zu fragen. Fordern wir eine rhetorische Untersuchung der Fernsehansprache von Frau Merkel unter besonderer Nennung sämtlicher Kriegsmetaphern und lassen diese vergleichen mit den Äußerungen Emmanuel Macrons. Fragen wir, welche sie besser fanden und vor allem wieso.

Wer weiß noch was von Chemie in der Klasse 7?
Werden wir fantasievoll, mutig, unorthodox. Nutzen wir die Corona-Pause und wandeln uns von der Fachlehrkraft zum Pädagogen. Schule ist nur ein Lernort von vielen. Wer weiß heute noch, was er in der 7. Klasse in Chemie gemacht hat?

Volksstimme Magdeburg

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